Mathematische Biowissenschaften: Versteckte Mechanismen der Zellregulation erkennen
Die moderne Systemmedizin zielt darauf ab, das Verhalten von Zellen unter verschiedenen Behandlungsszenarien vorhersagbar zu machen. Klassische Modelle der Zellregulation sind meist der Beschreibung chemischer Reaktionen entlehnt und erscheinen im biologischen Kontext bisweilen stark vereinfacht. Oft beschreiben sie experimentelle Daten zu komplexen zellulären Prozessen nur ungenügend und verschiedene Ansätze liefern mitunter diametrale Ergebnisse. Dies lässt auf ungeeignete Grundannahmen der Modelle schließen.
Martin Hoffmann vom Fraunhofer Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin (ITEM) in Regensburg und Jörg Galle vom Interdisziplinären Zentrum für Bioinformatik (IZBI) in Leipzig beschränkten sich nicht auf die klassischen Modelle. In einer jetzt in Nature Systems Biology and Applications veröffentlichten Studie analysierten sie verschiedene Protein- und Genexpressionsdaten mithilfe allgemeiner mathematischer Funktionen. Parallel dazu bewerteten sie die genutzten Daten hinsichtlich ihrer Eignung, die freien Parameter der verwendeten Funktionen zu bestimmen, d.h. sie an konkrete Bedingungen anzupassen. Diese Fähigkeit ist für die Eindeutigkeit und Vorhersagekraft des resultierenden Modells wichtig.
Der Vergleich ergab, dass eine zeitlich fortlaufende Beobachtung von Einzelzellen (sog. `single cell tracking´) am effektivsten für die Parameteridentifikation ist. Generell mussten die beiden Wissenschaftler jedoch feststellen, dass selbst bei sehr geringer Fehlertoleranz überraschend viele verschiedene, oft nicht-klassische Zellregulationsmodelle mit den Daten gut übereinstimmten. Vielfach beschrieben nicht-klassische Modelle die Daten sogar besser als klassische Ansätze. Auf Grundlage dieser Ergebnisse muss davon ausgegangen werden, dass die Mechanismen der Zellregulation vielfältiger sind als bisher angenommen.
Die Autoren zeigen mithilfe virtueller Behandlungsszenarien, dass die genaue Kenntnis der aktiven Mechanismen grundlegend für die korrekte Einschätzung von Therapieeffekten ist. Als Quintessenz ihrer Studie schlagen sie daher vor, zur Identifikation von Zellregulationsmechanismen stets sehr allgemeine mathematische Funktionen einzusetzen. Nur eine solche unvoreingenommene Vorgehensweise stellt sicher, dass vom klassischen Verhalten abweichende Regulationsmechanismen überhaupt erkannt werden können.
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Ansprechpartner:
Martin Hoffmann: Fraunhofer Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin, Regensburg
E-Mail: martin.hoffmann@item.fraunhofer.de
Jörg Galle: Interdisziplinäres Zentrum für Bioinformatik, Leipzig
E-Mail: galle@izbi.uni-leipzig.de
Reference:
Hoffmann M and Galle J. Stochastic system identification without an a priori chosen kinetic model—exploring feasible cell regulation with piecewise linear functions. Nature Systems Biology and Applications. 2018, 4:15; doi:10.1038/s41540-018-0049-0